Vorurteile II

Dieses Thema hat so viele und vielfältige Aspekte, dass ich mich ihm nochmals zuwenden möchte.

Ein Erlebnis ging mir eine Nacht so nach, dass es zum ersten Artikel führte. Nun ist wieder etwas Zeit vergangen und im Austausch mit einigen Menschen, die den ersten Teil gelesen haben, stellte sich zunehmend der Wunsch ein, noch einmal neu und ganz unmittelbar aus der eigenen Erfahrung das Thema sehr viel persönlicher zu beleuchten.

Im Gespräch mit einem Freund habe ich erlebt, wie durch seine Bestimmtheit im Wiederholen seiner "Ansichten" in mir etwas passierte, das ich zunächst als Lähmung beschreiben kann. Jeder Gedankenimpuls verhungerte zuneh-mend im Verlauf der Unterhaltung, bis ich seinen `Thesen´ nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Und ich blieb mit großer Traurigkeit irgendwann einfach nur still sitzen.

In mir kam alles zum Erliegen, was ich an mir und mit mir als lebendig erlebe. Ich fühlte mich abgeschnitten vom großen Strom und hatte viel Mühe, wieder in ein eigenständiges, klares Bewusstsein zurück zu finden.


Wie hatten seine Vorurteile es geschafft, mich derart zu verdumpfen?

Was passiert in meinem Bewusstsein, wenn mir jemand seine Vorurteile als allgemein gültige und gängige Meinung hinstellt?

Was genau töten Vorurteile, dass ich mich nicht mehr spüren kann?

Wo verläuft die Grenze zwischen Emotionen und ihren psychologischen Vorgängen und dem geistigen Prozess im Geschehen?


Vielleicht liegt der Beginn da, wo mein Gesprächspartner mir eine widersprüchliche Haltung und damit Botschaft vermittelte: "Ich möchte mich mit Dir unterhalten." - "Deine Meinung interessiert mich nicht." Oder vielleicht das Dahinter: "Ich möchte Dir begegnen." - "Komm mir nicht zu nahe."

Er sprach also mit mir, aber baute so viel Mauer, dass der Raum, in dem Begegnung hätte stattfinden können, verschlossen blieb.

Und jeden meiner Versuche, einen Stein aus der Mauer zu nehmen, damit wir einander wieder sehen könnten, beantwortete er mit neuen "Bauarbeiten". Und dabei hatte ich mich so auf ihn gefreut!

Ich wurde traurig, als ich irgendwann verstand, dass dies eine verpasste Gelegenheit für menschliches Miteinander Sein bleiben würde.


Jedes echte Gespräch braucht Aufmerksamkeit, Hingabe und Genauigkeit, Zeit für Gedankenreifung und die Liebe zur Wahrheit, Schönheit und Klarheit. Mir scheint, diese Aspekte sind ausgerottet, wenn ich mit Vorurteilen darauf haue. Wie jedes Sterben der Vielfalt eine Verarmung der Erlebnismöglichkeiten macht, so geht uns am Ende vielleicht die menschliche Kommunikationsfähigkeit verloren. (?) (Ist die ökologische Ausrottung und Verarmung ein Spiegel dieses Geschehens in uns?)

Dann ist das eine weitere Aufgabe, die sich ergibt: Sei sorgsam, wenn Du sprichst, denn es kann einen Menschen be-reichern oder ihm Qualitäten nehmen. Auch mir als Sprecherin.

Wie gestalte ich ein Gespräch in der geforderten Weise? Dazu brauche ich die Psychologie als Werkzeug, damit ich mir klar werden kann über meine Bedürfnisse und Bedürftigkeiten, meine Ängste und meine Stärken.

Obwohl hier das meiste mit Punkt dahinter steht, sind es doch eher Fragen als Antworten; das möchte ich zum Schluss bemerken.

Dezember 2011